Synergie im Cockpit: von Situational Awareness und Shared Mental Models

Stell dir vor, du sitzt hinter dem Lenkrad deines Autos, die vertraute Strecke zieht an dir vorbei und die Gedanken schweifen allmählich ab. In diesem Moment, wenn die Landschaft verschwimmt und der Motor das einzige Geräusch ist, das deine Aufmerksamkeit zu beanspruchen scheint, tritt etwas Eigenartiges ein. Plötzlich wird dir bewusst, dass die letzten paar Kilometer wie im Nebel verschwunden sind. Du fragst dich, wie du an diesen Punkt gelangt bist, ohne es wirklich mitbekommen zu haben – es scheint, als hätte irgendjemand oder irgendetwas das Auto an deiner Stelle gefahren. Dein Situationsbewusstsein, das Gefühl für die Umgebung, hat sich vorübergehend verflüchtigt…

Nun stell dir vor, dasselbe würde den Piloten an Bord eines Verkehrsflugzeugs passieren. Die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, ist um ein Vielfaches größer. In 10.000 Metern Höhe, umgeben von einem Meer aus Wolken reichen die Konsequenzen des Verlusts von Situational Awareness weit über die einer verpassten Ausfahrt hinaus.

In diesem Artikel möchte ich dir die Konzepte von Situational Awareness und Shared Mental Models näherbringen und damit die Geheimnisse einer gut synchronisierten Flugzeugbesatzung lüften. Außerdem verrate ich dir, wie du diese Konzepte in deinen Alltag integrieren und zu deinem Vorteil nutzen kannst. Ich versuche das so unterhaltsam wie möglich zu gestalten – schließlich möchte ich deine Situational Awareness nicht verlieren. Also buckle up und los geht’s.

Situational Awareness

Da die Aufmerksamkeit am Anfang bekanntlich am höchsten ist, will ich zunächst mit einer begrifflichen Definition starten.

Situational Awareness ist die Wahrnehmung der Elemente in der Umwelt innerhalb eines zeitlichen und räumlichen Umfangs, das Verstehen ihrer Bedeutung und die Einschätzung ihres Zustandes in der nahen Zukunft.

Endsley, M. R. (1988) 1

Was hochtrabend und kompliziert klingt, ist eigentlich recht schnell erklärt: Situational Awareness umfasst drei verschiedene Aspekte – man könnte sie auch als Level bezeichnen.

Level 1: die Person ist im Stande, die verschiedenen Elemente im Hier und Jetzt wahrzunehmen und gegebenenfalls zu überwachen.

Level 2: die Person kann die aktuelle Situation verstehen und bewerten.

Level 3: die Person kann erfolgreich abschätzen, wie die Situation in der Zukunft aussehen könnte – dies ist der höchste Grad von Situational Awareness.

Wichtig: Die einzelnen Stufen bauen aufeinander auf, das heißt, man muss erst Level 1 meistern, ehe man in Level 2 aufsteigen kann.

Grafisch würde das dann folgendermaßen aussehen:

Das Konzept des Situationsbewusstseins als ineinander verschachtelte Matrjoschka

Um ein gutes Situationsbewusstsein zu entwickeln, muss man natürlich wissen, wie die Dinge sein sollten, um zu erkennen, was falsch ist! Dies wird maßgeblich durch die Ausbildung, Erfahrung sowie individuellen Fähigkeiten beeinflusst. Situational Awareness wird aber auch durch das System (Flugzeug, Cockpit) und die auszuführenden Aufgaben (fliegen, kommunizieren, etc.) beeinflusst. Somit kann das obige Schaubild wie folgt erweitert werden:

Situationsbewusstsein als wichtiger Bestandteil für gute Entscheidungen. Die Umwelt als zentrale Eingangsgröße für das Situationsbewusstsein ändert sich laufend und wird mitunter auch durch die Umsetzung der Entscheidung beeinflusst. Mittig befinden sich Faktoren, welche sich neben Situational Awareness auch auf die Entscheidung sowie Durchführung auswirken. In Anlehnung an Endsley, M. R. (1995) 2

Wie wichtig Situational Awareness für die sichere Flugdurchführung ist, erkennt man spätestens, wenn man sich die Konsequenzen von mangelhaftem oder unzureichendem Situationsbewusstsein vergegenwärtigt: angefangen bei einer mehr oder weniger harmlosen Luftraumverletzung über den temporären Verlust der Kontrolle bis hin zu Controlled Flight into Terrain. 3 Eine Auswertung der ASRS-Datenbank ergab, dass bei durchschnittlich 45 % der gemeldeten Vorfälle (Unfälle, Zwischenfälle, gefährliche Situationen) das teilweise oder gänzliche Verlieren des Situationsbewusstseins ein Faktor gewesen ist. 4

Nun aber genug der Theorie! Wie kann man nun ein gutes Situationsbewusstsein aufbauen?

Tipps für ein besseres Situationsbewusstsein

Einer meiner Fluglehrer hat mir immer wieder eingetrichtert „Sei stets vor dem Flieger“. Was er damit meinte, war zum einen, Level 3 des Situational Awareness Modells anzustreben („…vor dem Flieger“), und zum anderen, dieses Level aufrechtzuerhalten („Sei stets…“). Wie wir bereits gelernt haben, kann man nicht direkt bei Level 3 einsteigen, ehe Level 1 (Wahrnehmen) und 2 (Verstehen) nicht sichergestellt sind. Im Folgenden also ein paar Erkenntnisse aus meiner Pilotenausbildung, angereichert mit Best Practices für jedes entsprechende Level:

Level 1

Informationssuche – Nutze deine Sinne

  • Halte Ausschau nach draußen (z. B. andere Verkehrsteilnehmer, Wetter, etc.)
  • „Scanning“ der Instrumente und „Call-outs“ (letzteres ist auch in Single Pilot Environments äußerst wirksam)
  • Überwache die Kommunikation zwischen Fluglotsen und anderen Luftfahrzeugen
  • Navigiere (einschließlich der Verwendung von Karten)

Aufmerksamkeit steuern

  • Setze Prioritäten
  • Vermeide Ablenkungen
  • Passe die Überwachung an die Dringlichkeit der Flugphase an → Konzept des „sterilen Cockpits“

Level 2

Verstehen

  • Setze spezifische Ziele
  • Wisse stets, was wichtig ist, wann man es benötigt und wo man es findet
  • Urteile nicht voreilig
  • Überprüfe die Daten und dein Verständnis darüber → vermeide den Bestätigungsfehler 5
    • Nutze mehrere Informationsquellen, sofern verfügbar
    • Suche aktiv nach Informationen / Argumenten, die dein Urteil oder deine Meinung widerlegen
    • Greife auf Faustregeln zurück, falls keine Informationen verfügbar sind
  • Wende Erfahrung und Lehren aus der Vergangenheit an

Level 3

Vorausschauend denken

  • Informiere andere darüber, was du erwartest → Shared Mental Models
  • Vergleiche die von dir erwartete Situation mit deinen Zielen
  • Bewerte die Risiken – Frage dich “Was wäre, wenn?”
  • Bereite dich auf Abweichungen vor – Rechne mit visuellen Täuschungen, fehlenden Informationen, etc.
  • Passe deinen Plan bei Bedarf an

Was tun, wenn die Situation dich überrollt?

Doch was passiert, wenn wir die Situational Awareness verlieren? Wenn wir uns nur noch auf einen Aspekt der Situation konzentrieren und den Überblick verlieren?

Hierzu muss man sagen: Es ist oft gar nicht so offensichtlich, ob man das Situationsbewusstsein verloren hat oder nicht. Erinnerst du dich noch an die Auto-Situation aus der Einleitung? Das Situationsbewusstsein nahm dort allmählich immer weiter ab, bis man sich dessen schlagartig klar wurde. Der wichtigste Hinweis auf ein fehlerhaftes oder abhanden gekommenes Situationsbewusstsein ist, wenn man neue Informationen wahrnimmt, die nicht mit den eigenen Erwartungen übereinstimmen. 6

Im Folgenden möchte ich einige Strategien aufzeigen, wie Piloten in solchen Tunnelblick-Situationen, die meist auch zeitkritisch sind, das Situationsbewusstsein zurückerlangen.

  1. 4S-Strategie: Kehre zurück zur nächstmöglichen sicheren, simplen und stabilen Situation. Das kann beispielsweise bedeuten, auf Regeln, Prozeduren und SOPs (engl. standard operating procedures) zurückzugreifen. Eventuell kann es auch hilfreich sein, den Automationsgrad zu ändern.
  2. Aviate, navigate, communicate: Dieses Mantra ist ein wichtiger Bestandteil der Pilotenausbildung und wird oft als Prioritätsliste für Piloten in Notsituationen verwendet. Die Priorität liegt auf dem Fliegen des Flugzeugs, gefolgt von der Navigation und schließlich der Kommunikation mit der Flugsicherung.
  3. Um Hilfe bitten: Es ist wichtig, um Hilfe zu bitten, wenn man sich in einer schwierigen Situation befindet. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern zeigt, dass man verantwortungsbewusst handelt und die Sicherheit aller an Bord gewährleisten möchte.
  4. “Erkaufe” dir Zeit: Oft kann es hilfreich sein, sich Zeit zu verschaffen, um sich in Ruhe zu orientieren. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist, eine Warteschleife zu fliegen, um den Flugverlauf bewusst zu verzögern.

Shared Mental Models

In Teamkonstellationen ist es wichtig, dass nicht nur ein Mitglied den perfekten Überblick behält, sondern das gesamte Team auf demselben Stand ist. Ein wirksames Mittel, um dies zu erreichen, sind Shared Mental Models.

Ein Shared Mental Model (SMM) ist ein gemeinsames Verständnis oder eine gemeinsame Darstellung der Ziele des Teams, der Aufgaben der einzelnen Teammitglieder und der Art und Weise, wie die Teammitglieder sich untereinander abstimmen, um ihre gemeinsamen Ziele zu erreichen.

Salas, E. et al. (2004) 7

Effektive Kommunikation ist hierbei natürlich essenziell. Die Betonung liegt auf effektiv. In Studien fanden Forscher beispielsweise heraus, dass leistungsstärkere Teams tatsächlich weniger kommunizierten als leistungsschwächere Teams. 8

Eine bewährte Technik zur Schaffung von SMM unter Piloten sind Briefings. Dabei handelt es sich um kurze Besprechungen während des Flugs zwecks Koordinierung der gemeinsamen Handlungen, zur Wiederholung (recall) und Einprägung. Auch hier gilt das Motto: Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher. 9 Briefings sollten dynamisch und der Situation entsprechend skalierbar sein (je höher die Komplexität und je mehr potenzielle Gefahren, desto umfangreicher). Außerdem sollten Briefings idealerweise die Interaktion zwischen den Crew-Mitgliedern fördern. So könnte beispielsweise zunächst der nichtfliegende Pilot (engl. Pilot Not Flying oder auch Pilot Monitoring) das Wort ergreifen und mögliche Gefahren aufzeigen, ehe der fliegende Pilot (engl. Pilot Flying) seinen Plan of Action darlegt.

Wie du das Gelesene für dich nutzen kannst!

Dass Situational Awareness in der Fliegerei – ein Umfeld, in dem Entscheidungen schnell und mit großer Tragweite getroffen werden – eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als im privaten Alltag, liegt auf der Hand. Dennoch möchte ich dir am Ende dieses Beitrags etwas mitgeben und dir aufzeigen, wie du das Gelernte für dich selbst nutzen kannst.

Alltag

  • Verkehrssicherheit: Achte beim Autofahren auf die Umgebung sowie auf potenzielle Gefahren. Versuche, die Perspektive der anderen Verkehrsteilnehmer einzunehmen, und antizipiere ihr mögliches Verhalten. Achte auf ihre Signale, ihre Blickrichtung und so weiter. Stelle dir regelmäßig „Was wäre wenn“-Fragen (z. B. was wäre, wenn ich plötzlich einen Reifenplatzer hätte?).

Beruf

  • Meeting-Effizienz: Bleibe während Meetings aufmerksam, erfasse wichtige Informationen und fördere durch klare Kommunikation ein gemeinsames Verständnis der besprochenen Themen. Oder mach’s wie Jeff Bezos: bereite für jedes Meeting eine Art Memo vor, welches von allen Teilnehmern als Vorbereitung auf das Meeting studiert werden muss. 10 Auf Grundlage dieses gemeinsamen Verständnisses kann dann im Meeting produktiv diskutiert werden.

Freizeit

  • Mannschaftssport: Fördere eine gemeinsame taktische Ausrichtung, indem du mit deinen Teammitgliedern klare Spielstrategien kommunizierst. Außerdem könntest du verschiedene Szenarien simulieren, um das Situationsbewusstsein zu stärken und sicherzustellen, dass Teammitglieder gut auf verschiedene Situationen vorbereitet sind.

Ich hoffe, du fandest diesen Beitrag hilfreich und konntest etwas für dich mitnehmen!

Weiterführende Links

Quellen

  1. Endsley, M. R. (1988), Design and Evaluation for Situation Awareness Enhancement, p. 97 ↩︎
  2. Endsley, M. R. (1995), Toward a Theory of Situation Awareness in Dynamic Systems, p. 35 ↩︎
  3. Eine Bezeichnung für einen Unfall, bei dem ein lufttüchtiges Luftfahrzeug, das vollständig unter der Kontrolle des Piloten steht, unbeabsichtigt in den Boden, einen Berg, ein Gewässer oder ein Hindernis geflogen wird. ↩︎
  4. Die ASRS-Datenbank ist die weltweit größte Sammlung freiwilliger, vertraulicher Sicherheitsinformationen, die vom Luftfahrtpersonal der vordersten Reihe, einschließlich Piloten, Fluglotsen, Mechanikern, Flugbegleitern und Disponenten, bereitgestellt werden. Die angesprochene Auswertung habe ich selbst durchgeführt. ↩︎
  5. Eine zutiefst menschliche Neigung, Informationen so zu ermitteln, auszuwählen und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen. ↩︎
  6. Endsley, M. R. (1995), Toward a Theory of Situation Awareness in Dynamic Systems, p. 57 ↩︎
  7. Salas, E. et al. (2004), Cooperation at Work, Encyclopedia of Applied Psychology, p. 497 ↩︎
  8. So etwa Mosier, K. L., & Chidester, T. R. (1991), Situation assessment and situation awareness in a team setting, p. 798-800. ↩︎
  9. Bekanntes Zitat von Albert Einstein ↩︎
  10. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem empfehle ich dieses Interview von Lex Fridman. Über die Rolle von Memos wird ab 01:59:55 gesprochen. ↩︎

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