Minimalismus, Teil 4: Schattenseiten

In den vorangegangenen Teilen meiner kleinen Betragsreihe zum Thema Minimalismus habe ich dir gezeigt, wie du deinen Alltag bewusster bzw. minimalistischer leben kannst. Mein Fokus lag hierbei eher darauf, dir konkrete Tipps an die Hand zu geben, als sich mit den Vorzügen des Minimalismus zu beschäftigen. Für mich waren diese nämlich stets offensichtlich: weniger Stress, mehr Zeit für das Wesentliche, womöglich mehr Geld und insgesamt ein gesünderes Leben. Allerdings bin ich während meiner Recherchen zu diesem Thema immer mal wieder über Websites und Essays gestolpert, die einer minimalistischen Lebensweise absolut nichts abgewinnen können oder diese sogar kritisieren.

Wieso die Auseinandersetzung?

Jetzt könntest du dich fragen, weshalb ich mich überhaupt mit den Argumenten jener Minimalismus-Gegner herumschlage. Nun ja, erstens finde ich es wichtig, Dinge stets von allen Blickwinkeln zu betrachten, um nicht von einer stark angepriesenen Sache geblendet zu werden oder – um es wissenschaftlich zu formulieren – kognitiven Verzerrungen zum Opfer zu fallen. Ich denke jeder hat schon einmal den Bestätigungsfehler begangen und nur diejenigen Informationen für wahr und logisch erachtet, die dem eigenen Weltbild am besten entsprechen. Zweitens bieten mir diese Argumente die Möglichkeit, darauf zu reagieren und meine eigene Meinung kundzutun.

Die Argumente der Minimalismus-Gegner

Was also sind die Begründungen, dass Minimalismus eine nicht erstrebenswerte Lebensweise sei? Im Folgenden möchte ich mich mit den fünf am häufigsten angeführten Argumenten auseinandersetzen.

1. Minimalismus muss man sich erstmal leisten können

Nach Einschätzungen einiger Menschen ist Minimalismus zum neuen Trend der Superreichen verkommen. Und es stimmt teilweise: die Anzahl an Promis und anderer Personen des öffentlichen Lebens, die einen minimalistischen Lebensstil pflegen, steigt. Zahlreiche Beweise hierfür finden sich beispielsweise auf Instagram, wo sich nebst minimalistischer Kunst – im Übrigen der Ursprung des Minimalismus – auch immer mehr Bilder von übersichtlich eingerichteten Lofts einreihen. Bei genauerem Hinblick lassen sich jedoch teilweise teure Designermöbel identifizieren – ganz nach dem Motto „Qualität vor Quantität“. Und genau diese Tatsache kritisieren Minimalismus-Gegner. Ihrer Ansicht nach, darf sich ein Mensch nur „Minimalist“ nennen, wenn dieser nicht nur wenig, sondern zudem nur „normale“ oder gar billige Gegenstände besitzt. Natürlich ist Minimalismus gelebte Sparsamkeit. Allerdings bedeutet das in meinen Augen nicht, dass man als Minimalist auf hochwertige Güter verzichten muss. Ganz im Gegenteil: dadurch, dass man sich auf einige wenige Besitztümer beschränkt, dürfen und sollten diese sogar hochwertig und langlebig sein. Dass sich viele Influencer in sozialen Medien häufig mit Minimalismus schmücken und dabei ein völlig falsches Bild vermitteln, ist natürlich trotzdem war.

Eine weitere These in diesem Zusammenhang lautet, dass Minimalismus einen gehobenen Lebensstandard voraussetzt. So haben Unter- und Mittelschicht nicht die Mittel, um über Minimalismus nachzudenken und Dinge einfach wegzuschmeißen. Diesem Argument möchte ich entschieden entgegentreten, da ich es für ein zentrales Missverständnis halte. Jeder kann minimalistisch leben, ohne dabei auf etwas verzichten zu müssen. Offensichtlich werden hier die Begriffe Minimalismus und Verzicht gleichgesetzt. Minimalismus hat vielmehr etwas mit einer bewussteren Lebensweise zu tun, die selbstverständlich mit einer Reduzierung der Besitztümer einhergeht, jedoch nie einschränken soll.

2. Minimalismus ist umweltschädlich und nicht nachhaltig

Auch dieses Argument leidet in meinen Augen an unzureichender Differenzierung. Angenommen, ich konnte dich für den Minimalismus begeistern. Die erste Konsequenz wäre sicherlich, unnötige und selten gebrauchte Gegenstände auszusortieren, wegzuschmeißen oder zu verschenken. Schade ich damit der Umwelt? Womöglich nur, wenn ich diese Gegenstände nicht ordnungsgemäß recycle. Sobald du dich dann als frisch gebackenen Minimalisten bezeichnen kannst, sehe ich keinen Grund, weshalb Dinge aufzubewahren und Vorräte anzulegen umweltfreundlicher und nachhaltiger sei, als gar nicht erst so viele Produkte zu konsumieren. Anders ist das natürlich bei Gütern, die ständig nachgekauft werden müssen, wie Lebensmittel oder Büromaterialen. Dort macht es durchaus Sinn, diese in größerem Umfang zu kaufen und zu lagern, um beispielsweise unnötige Autofahrten zu vermeiden. Vorratshaltung hat aber auch seine Nachtteile. Man könnte sogar argumentieren, dass eine allzu große Vorratshaltung schlecht für die Umwelt sei, da Lebensmittel beispielsweise in Vergessenheit geraten könnten und schließlich ungenießbar sind.

Einem Argument in diesem Zusammenhang muss ich jedoch zustimmen:

Es ist leicht, sich als Minimalist zu fühlen, wenn man mit einem einzigen Ziegelstein aus Stahl und Silikon Essen bestellen, ein Auto herbeirufen oder ein Zimmer mieten kann. Aber in Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Wir nutzen die Vorteile eines maximalistischen Gesamtkonstrukts. Nur weil etwas einfach aussieht, heißt das nicht, dass es das auch ist; die Ästhetik der Einfachheit tarnt den Kunstgriff oder sogar den unhaltbaren Exzess. [1]

Gesagt sei hierbei jedoch, dass vermutlich niemand in der heutigen Zeit auf das Internet der Dinge verzichten kann und will. Wieso also die Minimalisten in ein schlechtes Licht rücken?

3. Minimalismus ist realitätsfern und nicht alltagstauglich

Dieses Argument entspringt folgendem Zitat:

Eine reduzierte Ernährungsweise aus Rohkost und zuckerfreien Bonbons hat nichts mit dem Neunstundenbüroalltag eines gewöhnlichen Pendlers zu tun, schon gar nicht mit den Schichten eines körperlich aktiven Arbeiters. [2]

Diese leicht hyperbolisch angehauchte Aussage verfehlt ihr Ziel gleich in zweierlei Hinsicht. Erstens pauschalisiert sie – aus rhetorischer Sicht womöglich so gewollt. Zweitens hat sie nichts mit dem Minimalismus per se zu tun. Der Minimalismus deckt idealerweise alle Bereiche des täglichen Lebens ab, so auch die Ernährung. In meinen Augen ist das aber kein Muss. So ist beispielsweise ein bewussterer, ja minimalistischerer Umgang mit dem Smartphone schon sehr viel wert.

Da die Autorin hier auf eine minimalistische Ernährungsweise – gesund, überschaubar und bloß kein Zucker – anspielt, möchte ich mich auch diesbezüglich kurz äußern. Ernährung ist ein hochkomplexes und ebenso emotionales Thema. In diesem Zusammenhang spielt Minimalismus eine eher geringere Rolle. Eine Minimalistische Ernährung – falls es diese überhaupt gibt – ist meiner Ansicht nach eine der letzten Stufen, die es auf dem Weg zum ultimativen Minimalisten-Guru zu erklimmen gilt.

Worauf die Autorin vermutlich abzielen möchte, ist die schlechte Alltagstauglichkeit von Minimalismus. Natürlich gibt es Leute, die gerne über Minimalismus reden, ohne tatsächlich selbst etwas zu „minimalisieren“. Aber das ist sicherlich die Ausnahme. Die Frage, was an einer minimalistischen Lebensweise nicht alltagstauglich sein soll, kann ich dir auch nach langem Grübeln nicht beantworten.

4. Minimalismus ist egoistisch

An diesem Argument ist tatsächlich etwas Wahres dran. In meinen Beiträgen zum Thema Minimalismus habe ich fast immer folgendes Zitat eingebracht:

Vereinfachung soll dein Leben nicht leer machen, sondern Raum für das schaffen, was du wirklich tun möchtest. Finde zuerst heraus, was du vereinfachen willst, bevor du damit beginnst. [3]

Dass darin gleich dreimal das Wörtchen „du“ und einmal „dein“ enthalten ist, zeugt davon, dass Minimalismus manchmal auch in einer Form von Individualismus ausarten kann. Im schlimmsten Fall setzt man sich selbst an erster Stelle, indem man überlegt, ob eine Person, ein Ort oder eine Sache wirklich zum eigenen Weltbild passen oder diese eher gemieden werden sollten. Umso wichtiger ist es sich dessen bewusst zu werden, um am Ende kein Egoist zu werden.

5. Minimalismus schränkt Menschen ein

Einige Kritiker sind davon überzeugt, dass Minimalismus einer Art Dogma folge, an welchem deren Anhänger uneingeschränkt festhalten müssten, egal was sie davon hielten. So gilt bekanntlich Sauberkeit zur Grundeigenschaft eines „echten“ Minimalisten. Dass hat jedoch nicht automatisch zur Folge, dass die Wohnungen von Minimalisten vollkommen homogen sind und jegliche Spuren der eigenen Persönlichkeit oder Schrulligkeit fehlen. Minimalismus macht kreativ und so entwickelt jeder seine eigenen Lösungen, um einer bewussteren Lebensweise gerecht zu werden.

Fazit

Haben Minimalismus-Gegner also Recht mit ihren Behauptungen? Ganz klar: nein. So wie ich es sehe, kommt hier bei aller Sachlichkeit sehr viel Undifferenziertheit und Schubladen-Denken zum Vorschein. Das hat vermutlich damit zu tun, dass Minimalismus in der Öffentlichkeit häufig als heiliger Gral dargestellt wird, wenn es darum geht, Abstand vom heutigen ausufernden Konsumverhalten zu nehmen. Folgendes Zitat bringt es vortrefflich auf den Punkt:

Die Unzufriedenheit mit dem Materialismus und den üblichen Belohnungen der Gesellschaft ist nicht neu, aber der Minimalismus ist keine Idee mit einer geradlinigen chronologischen Geschichte. Es ist eher ein Gefühl, das sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten der Welt wiederholt. Es wird durch das Gefühl definiert, dass die umgebende Zivilisation exzessiv ist und damit eine Art von ursprünglicher Authentizität verloren hat, die wiedergewonnen werden muss. Die materielle Welt hat in diesen Momenten weniger Bedeutung, und so verliert das Anhäufen von mehr Zeug seinen Reiz. […] Die Sehnsucht nach weniger ist weder eine Krankheit noch ein Heilmittel. Minimalismus ist nur eine Art, darüber nachzudenken, was ein gutes Leben ausmacht. [1]

Ich bin davon überzeugt, dass sich jeder Mensch ein eigenes Bild vom Minimalismus machen sollte, bevor er voreilige Schlüsse zieht. Am eindringlichsten gelingt dies natürlich, wenn man Minimalismus selbst ausprobiert – in meinen Augen die beste Methode, um Vorurteile abzubauen.

So, mit diesen Satz und insgesamt knapp sechzig Wiederholung des Wortes „Minimalismus“ – oder einer Abwandlung davon – möchte ich diese Beitragsreihe vorerst beenden. Ich hoffe, ich konnte dich ein wenig für diese Art des bewussten Lebens begeistern. In jedem Fall würde mich deine Meinung oder gar Erfahrung zu diesem Thema würde sehr interessieren. Zögere also nicht und schreibe ein Kommentar unter diesen Beitrag.

Quellen

[1] Chayka, K. (2020), „The empty promises of Marie Kondo and the craze for minimalism“, The Guardian

[2] Rosales, C. (2020), „Verzicht muss man sich leisten können“, ZEITmagazin

[3] Babauta, L. (2009), „Weniger bringt mehr: Die Kunst, sich auf das Wesentliche zu beschränken“, Riemann Verlag

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert